
Die urhorde
Am Anfang war nicht das Wort, sondern der Faustschlag: In Sigmund Freuds Version der Menschheitswerdung Totem und Tabu (1913) sitzt ein übermächtiger Urvater auf dem Thron der Vorzeit, beansprucht die Frauen als persönlichen Harem und verteilt väterliche Liebe höchstens in homöopathischen Dosen – bevorzugt in Form von Verboten. Die Söhne? Statisten im Drama seiner Selbstherrlichkeit, zur Keuschheit verdammt und zur Ohnmacht erzogen.

In einem Akt brüderlicher Solidarität mit revolutionärem Beigeschmack machten die Söhne kurzen Prozess: Vatermord mit anschließendem Kannibalismus. Nicht aus Hunger, sondern aus spirituellem Appetit – man wollte sich die väterliche Potenz buchstäblich einverleiben. Dieser erste Familienausflug endet blutig, aber lehrreich. Die aufkeimenden Schuldgefühle wurden laut Freud zum moralischen Fundament und aus der Totenfeier die Geburtsstunde der Zivilisation. Fortan gilt: Morden ist tabu - zumindest innerhalb der Familie. Auch das Liebesleben wird reglementiert. Das Mordverbot und das Inzestverbot treten als erste kulturstiftende Gesetze auf den Plan.

Als Denkmal für den gefallenen Despoten dient fortan ein Tier – kein besonders einflussreiches Exemplar, aber symbolisch aufgeladen wie ein antiker Held. Das Totem wird angebetet, Regeln werden erfunden, und Freud zieht sein großes Fazit: Kultur entsteht nicht aus der Harmonie netter Höhlenmenschen beim Lagerfeuer, sondern aus Gewalt, Reue und der kunstvollen Deckelung von Trieben die bis heute weiterzappeln.

Was Freud hier entwirft, ist keine historische Szene, sondern ein Mythos mit Struktur: Der Vatermord – eine spekulative Urszene, mit der er das Rätsel der Kulturentstehung psychoanalytisch begründen will. Der getötete Vater verschwindet nicht, sondern wirkt umso stärker: als Schuld im Inneren, als Ordnung im Außen. In seinem Sturz liegt die Geburt des Über-Ichs – jener inneren Instanz, die fortan darüber wacht, dass der Trieb nicht mehr ungebremst durchs Leben marschiert. Der Mensch wird Subjekt – unter der Bedingung, dass er seine ursprüngliche Freiheit nie wiederhaben darf.

Mit einmaliger Bluttat ist es nicht getan: Der Mord verlangt Wiederholung. Im Totem-Mahl, dem rituellen Verzehr eines symbolischen Tieres, wird das ursprüngliche Verbrechen simuliert, entschärft und gemeinschaftlich abgearbeitet. Freud liest darin den Ursprung aller religiösen Praxis: Die Opferhandlung ersetzt die Tat, das Symbol ersetzt das Opfer, die Regel ersetzt das Begehren. Das Tier stirbt als Platzhalter für den Vater erneut – die Urhorde isst, nicht aus Hunger, sondern aus Gewissenspflege.

Mit dem Rauch steigen die ersten Ideen auf. Sublimierung nennt Freud diesen psychischen Kunstgriff: Aus verdrängter Gewalt wird bedeutungsvolles Zeichen. Was nicht verdaut werden kann, wird vergeistigt. Der Rauch wird zur Metapher, zum Ahnenbild, zum Gottessurrogat. Der ermordete Vater kehrt zurück – nicht im Fleisch, aber im Symbol. Die Religion entsteht nicht aus metaphysischem Bedürfnis, sondern als elaborierte Verwaltung von Schuld.

Das gemeinsame Sitzen am Feuer entspringt nicht bloß dem Bedürfnis nach Gemütlichkeit. Vielmehr markiert es den Moment, in dem eine gemeinsam begangene Tat zum kollektiv anerkannten Gesetz wird. Kultur, so betont Freud, wurzelt nicht in der Vernunft, sondern im Akt der Verdrängung. Das Gesetz ist der Schatten des Verbrechens, das Inzestverbot die Kehrseite des einstigen Begehrens. Die Menschen, fortan Subjekte, blicken ins Feuer wie in einen Spiegel – und sehen darin nicht nur die Reste des Opfers, sondern auch den Anfang dessen, was man später "Gesellschaft" nennen wird. Ordnung durch Schuld: ein Modell mit erstaunlicher Haltbarkeit.

⟡ Requisiten des Ursprungs ⟡
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